Donnerstag, 2. Dezember 2010

Weiche Seelen

Seit einigen Jahren gebe ich an Schulen als Honorarkraft Seminare für Auszubildende: Knigge, Körpersprache, Verkaufstrainings und einiges mehr. Das macht  mir große Freude, ich bin immer beglückt, wenn ich feststellen kann, dass ich die Jugendlichen erreiche. Und das ist manchmal gar nicht so einfach. Meistens sind es 17-24-jährige Jungen und Mädchen oder junge Erwachsene und ich muss ganz schön darauf achten, dass ich meinen Stoff interessant und lebendig präsentiere und immer auch einen Bezug zu der Ausbildung und dem Umfeld der Teilnehmer herstelle. Die sind mit ihrer Kritik keinesfalls zurückhaltend und sagen sehr deutlich, wenn ihnen etwas nicht gefällt oder lassen mich sehr schnell spüren, wenn sie sich langweilen. Ich hab mich also ganz gut darein gefunden und finde den richtigen Ton.

In der letzten Novemberwoche allerdings erlebe ich etwas vollkommen Neues. Ich darf im Rahmen eines Projektes mit drei Gruppen von Förder- und Rehaschülern arbeiten und habe als Themenvorgabe. "Lernen lernen". Diese Jugendlichen absolvieren ein sogenanntes berufsvorbereitendes Jahr, um mit einem Abschluss eine Ausbildung beginnen zu können. Sie kommen manchmal von Förderschulen und haben keinen Schulabschluss, einige kommen aus Schulverweigererprogrammen. Alle haben sehr unterschiedliche soziale Strukturen und die meisten von Ihnen haben es nicht gelernt, zu lernen und sich konzentrieren. Das ist eine große Herausforderung für mich und ich habe nach Durchforstung meiner Konzepte und und Skripte beschlossen, mich zuerst mal auf Ziele, Umgangsformen und Körpersprache zu konzentrieren.

Der "Unterricht" ist an drei Tagen mit jeweils einer Gruppe geplant.  Und schon der erste Tag verlangt mir alles ab, was ich an Flexibilität und Geistesgegenwart zu bieten habe. Ich stehe vor einer Gruppe von 16 Jugendlichen, die ziemlich lebendig sind. Manche sind zappelig, manche reden dauernd miteinander, wieder andere nehmen "Kontakt" mit ihrem Nebenmann auf, indem mal eben geboxt wird - mit einem Wort, es geht richtig rund. Dennoch schaffe ich es, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir reden darüber, ob und wozu man Ziele im Leben braucht, warum man höflich sein soll. (Für einige ist es vollkommen ungewöhnlich, Fremde im Fahrstuhl zu grüßen) Ich mache einige Körperübungen, die mit großer Begeisterung ausgeführt werden. Alles in allem bin ziemlich geschafft, als ich nach vier Schulstunden den Unterricht beende und mich von den Schülern verabschiede. Aber ich habe das Gefühl, sie erreicht zu haben, sie stellen Fragen und hören mir zu. 

Die Lehrerin, die während der gesamten Zeit anwesend ist, ist erstaunt, dass ich mein Konzept so schnell anpassen kann und entschuldigt sich dafür, dass die Gruppe so groß ist. In den folgenden zwei Gruppen werden es 9 bzw 6 Schülerinnen und Schüler sein. Und sie warnt mich, in der dritten Gruppe habe ich eine oder sogar mehrere harte Nüsse zu knacken. Es gebe Verhaltensprobleme und große Defizite. Das kann ja heiter werden!

Der zweite Tag findet mich nach einer sehr unruhigen Nacht und mit der Überlegung, was wohl heute auf mich zukommt. Ich beschließe, mit denselben Themen zu arbeiten und es so unbefangen wie möglich angehen zu lassen. Als erstes frage ich die Schüler, ob ich sie duzen darf. Spontane Zustimmung, sie sitzen im Halbkreis und sind neugierig. Auch hier erlebe ich, dass Ziele angestrebt werden - den Abschluss machen, eine Ausbildung bekommen. Für viele ist "Familie haben" sehr wichtig, unabhängig sein und seinen Lebensunterhalt verdienen zu können hat aber oberste Priorität. Welche Biographien mögen wohl dahinter stecken... 

Wieder sind die Körperübungen und eigene Erfahrungen im Bereich der Körpersprache ein Thema, das sie sehr beschäftigt. Sie erleben im Spiel und im geschützten Raum, wie sich Grenzverletzungen anfühlen. Und aus der Gruppe kommt dann die Erkenntnis: "Wenn das für mich doof ist, dann kann ich das nicht mit anderen machen." Das führt uns zu dem Begriff  "Rücksicht", der plötzlich eine andere Bedeutung bekommt. Ich bin sehr berührt, als jemand äußert, Rücksicht sei eine Art Geschenk für andere Menschen. Und ich glaube, ich habe etwas bewegt.

Hier stehe ich vor der Tafel und demonstriere,  was man mit den Händen alles so machen kann. Und das Thema ist an der Tafel angeschrieben.





Der dritte Tag beginnt ebenfalls mit einer kurzen Vorstellungsrunde und  mit dem Einstieg in das Thema "Ziele", wozu brauchen wir sie, wie erreichen wir sie und was ist das eigentlich. Ich habe ein kleine Gruppe von 6 Schülerinnen und Schülern vor mir und merke, dass sie schnell Vertrauen zu mir fassen. Wieder habe ich mein Konzept eigentlich nur, um es nicht zu verfolgen. Durch die Spontaneität dieser Jungen und Mädchen ergeben sich schnell andere Themenbereiche, die ich dennoch immer wieder einbinden muss, um meinen roten Faden beibehalten zu können.

Höflichkeit und rücksichtvoll miteinander umgehen nimmt auch hier einen großen Raum ein. Und im Verlauf der Stunden bringe ich Begriffe wie "zuhören" oder "den anderen ausreden lassen" immer wieder ins Spiel, wenn es mal zu unruhig wird.  Da gibt es mitunter heftige Reaktionen - auch körperlich - wenn der andere vermeintlich nicht so will wie sein Mitschüler das gerne hätte. Mein Hinweis, wir hätten ja heute schon über Höflichkeit gesprochen, wird kommentiert: "Ja, ich weiß Bescheid, zuhören und so." "Und habt ihr das jetzt gerade gemacht?" "Nee." "Was ist denn das Schwere daran?" "Na ja, man will ja, aber dann regt man sich immer so auf und dann geht es nicht." Also reden wir darüber, was man machen kann, wenn man sich so aufegt und dennoch höflich bleiben will. "Man kan dran denken, wie blöd das für einen selbst ist." Ich erlebe, wie diese jungen Menschen, die wahrscheinlich in ihrem bisherigen Leben sozial und vielleicht auch emotional benachteiligt worden sind, sich Gedanken darüber machen, wie und was denn der Nebenmann oder überhaupt ein anderer Mensch empfinden könnte und versuchen, Lösungen zu finden.

Und unvermittelt steht eine Frage im Raum: "Ich würde gern mal wissen, wie das so ist, wenn man gestorben ist." Das gehört ja nun überhaupt nicht zu der heutigen Überschrift, ich merke aber, dass es die jungen Menschen beschäftigt und biete an, kurz vor dem Schluss darüber eine Gesprächsrunde einzulegen.

Da fast alle große Schwierigkeiten haben, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit in der dritten Stunde stark nachlässt, mache ich häufiger Pausen und komme nun zurück auf mein Angebot, über das, was nach dem Tod kommt, zu sprechen. Es bleibt natürlich nicht dabei sondern geht schnell zu "Glauben Sie an Geister?" oder dem, was in genau der Sekunde geschieht, in der jemand stirbt bis hin zu Äußerungen, die ahnen lassen, wie sehr der Tod eines nahen Verwandten einen beschäftigt und wie wenig Gelegenheit sie haben, solche Ereignisse zu besprechen und zu verarbeiten.  Es sind so weiche Seelen in den manchmal so rüpelhaften Hüllen. Natürlich werde ich auch gefragt, ob ich an Gott glaube oder was denn meiner Meinung nach nach dem Tode geschieht. Ich offenbare, was ich mir wünsche, wie es sein soll. Und das wird angenommen, sie hören mir zu und finden die Idee, dass die Seele sich ausruhen sollte, durchaus nachvollziehbar.

Diese Gruppe, vor der mich die Lehrer doch gewarnt hatten, scheint mir die zugänglichste und offenste von allen dreien. Sie arbeiten mit, sind bereit, kleine Übungen zu machen und wir haben einfach Spaß. Vielleicht habe ich den richtigen Ton getroffen. Ich weiß, dass ich in diesen paar Stunden nicht viel bewirken kann, Verhaltensauffälligkeiten oder Artikulationsprobleme kann ich sicher nicht beheben. Aber ich weiß, dass ich den Schülerinnen und Schülern das Gefühl vermittelt habe, dass ich sie ernst nehme und mich bemühe, sie zu verstehen. Und Irgendetwas bleibt immer im Geächtnis. Ich glaube, ich habe sie erreicht. Und das macht mich glücklich und zufrieden.